Alkohol Foto: © Matthias Müller

Eine Politik der Widersprüche - Erstes Schweizer Suchtpanorama

Lausanne/Schweiz | 12.02.2015 | APD | Schweiz

Die Suchtpolitik der Schweiz sei durchzogen von diversen Widersprüchen und Inkohärenzen, schreibt die Stiftung Sucht Schweiz in einer Medienmitteilung zum ersten Schweizer Suchtpanorama. Darin kritisiert sie, dass der Alkoholkonsum im öffentlichen Raum zwar als Problem wahrgenommen, der Alkoholmarkt aber weiter liberalisiert werde. Die Zuwendungen an die Tabakproduktion blieben gleich hoch wie die Mittel für die Tabakprävention und konsequentere Werbebeschränkungen, wie sie anderswo in Europa üblich seien, würden hierzulande noch auf grossen Widerstand stossen. Man wolle das Glücksspiel-Angebot auf dem Internet erweitern und gleichzeitig überlege man, die Mittel für die Prävention der Glücksspielsucht zu streichen.

Diese Widersprüche tragen laut der Stiftung nicht zur Glaubwürdigkeit der Suchtpolitik in der Schweiz bei. Diese scheine eher auf ideologischen Haltungen aufzubauen und nicht darauf, welche Folgen sie für betroffene Personen, ihr Umfeld und die Gesellschaft habe. Deswegen sei es wichtig, die Situation in der Schweiz und deren Auswirkungen zu analysieren. Die sei auch der Grund weshalb Sucht Schweiz ab 2015 ein jährlich erscheinendes Mediendossier mit dem Titel „Schweizer Suchtpanorama“ veröffentliche. Es soll Analysen zu Entwicklungen in den Bereichen Alkohol, Tabak, illegale Drogen und Glücksspiel in der Schweiz enthalten.

Weniger Alkohol - trotzdem viele Tote durch alkoholbedingte Verletzungen und Krankheiten
Im vergangenen Jahrzehnt ist in der Schweiz, aber auch in anderen Ländern, der Alkoholkonsum gesunken, heisst es im Suchtpanorama. Bestimmte Formen des täglichen Trinkens sind nach und nach verschwunden und finden sich heute vor allem noch bei älteren Personen. Eine Folge davon ist eine Abnahme des Gesamtkonsums in der Schweiz, insbesondere von Wein. Die Abnahme des täglichen Alkoholkonsums bei den Männern hat zu einer Annäherung zwischen den Geschlechtern beigetragen. Gleichzeitig trinken heute mehr Frauen regelmässig Alkohol als noch vor 20 Jahren, vor allem bei den 65- bis 74-Jährigen.

Die alkoholbezogene Problemlast in der Schweiz ist mit 1.600 Toten pro Jahr und schätzungsweise 250.000 abhängigen Menschen unverändert hoch, schreibt die Stiftung. Krebserkrankungen, Krankheiten des Verdauungssystems sowie Unfälle und Verletzungen machen den Grossteil der alkoholbedingten Todesfälle aus. Bei Männern der Altersgruppe der 15- bis 34-jährigen ist jeder fünfte Todesfall auf Alkohol zurückzuführen.

Der Gesamtkonsum von Alkohol und der Risikokonsum haben bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren in den vergangenen Jahrzehnten demnach zugenommen. „Die punktuellen Rauschzustände stagnieren heute auf einem hohen Niveau. Ohne Zweifel haben die Ausdehnung der Verkaufszeiten und der nächtlichen Freizeitangebote sowie die Preissenkung von Alkoholika hierzu beigetragen“, so der Bericht. Exzessiver Alkoholkonsum ist allerdings nicht Privileg der Jungen. Man findet ihn in allen Alterskategorien. Er ist auch bei berufstätigen Männern und solchen mit hohem Einkommen stärker verbreitet.

Die Totalrevision des Alkoholgesetztes ist laut Sucht Schweiz ein Schritt nach vorne und zwei zurück, weil damit die Liberalisierung des Alkoholmarktes voran schreite, während gleichzeitig die Verantwortung bei Problemen auf die Konsumierenden abgeschoben würden. Der liberalisierte Markt mache demnach die erreichten Fortschritte zunichte. „Diese Politik kommt teuer zu stehen, wenn sie Gewinne vor die Gesundheit setzt.“ Es gelte nun zu handeln, anstatt wegzuschauen, so Sucht Schweiz.

Tabak Foto: © Frederik Fiedler/churchphoto.de

Der Tabak: Das Ende der Baisse?
Der Gebrauch von Tabak ist unter dem Einfluss struktureller Massnahmen und sozialer Normänderungen zwischen den Jahren 2000 und 2008 von 33 auf 27 Prozent der Bevölkerung gesunken, heisst es im Bericht. Vor nicht allzu langer Zeit durfte man überall rauchen: Bei der Arbeit, im Restaurant oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Das Viertel der rauchenden Bevölkerung, tut dies heute oft nur noch auf der Strasse und auf Balkonen. Studienergebnisse deuten aber darauf hin, dass die Abwärtsentwicklung bei der Anzahl Raucher und Raucherinnen und des Passivrauchens nun zu Ende sein könnte. Laut Ergebnissen von Suchtmonitoring Schweiz liegt der Anteil der Rauchenden ab 15 Jahren bei 25 Prozent der Gesamtbevölkerung. Von den täglich Rauchenden wollten 57 Prozent mit dem Rauchen aufhören, heisst es im Suchtpanorama.

Ein nationales, streng kontrolliertes Abgabeverbot an Minderjährige ist deshalb unerlässlich, ergänzt durch ein Verbot von Zigarettenautomaten, fordert Sucht Schweiz.

Cannabis Foto: © ruby/churchphoto.de

Illegale Drogen: Weniger Heroin, mehr Ecstasy
Der dritte wichtige Abwärtstrend betrifft nach Angaben von Sucht Schweiz ein weniger verbreitetes Phänomen, das aber für die öffentliche Gesundheit grosse Probleme verursacht hat: der meist intravenöse Konsum von Heroin. Es ist unter anderem der besseren Behandlung und Betreuung der Heroinkonsumentinnen und -konsumenten zu verdanken, dass sich die Problematik in Zusammenhang mit illegalen Drogen in der Schweiz entschärft hat. Allerdings konsumieren mindestens 40.000 jüngere Menschen täglich Cannabis, manche von ihnen von morgens bis abends. Der illegale Markt ist zudem in dauernder Veränderung, wie sich zum Beispiel mit der Rückkehr von Ecstasy zeigt. Ausserdem entwickelt sich der Verkauf übers Internet, insbesondere von neuen psychoaktiven Substanzen.

Viele Glücksspiele, viele Verlierer
Laut Suchtpanorama ist das Angebot an Glücksspielen in der Schweiz zu Beginn dieses Jahrhunderts stark gestiegen, einerseits wegen der Zulassung von Casinos und andererseits durch die Diversifizierung der Lotteriespiele. Heute hat die Schweiz eine der grössten Casinodichten der Welt. Nun soll auch das Angebot von Glücksspielen im Internet ausgeweitet werden. Die Anzahl exzessiv Spielender und die mit dem Glücksspiel verbundenen sozialen Kosten sind sehr hoch und die Forschung konnte bereits nachweisen, dass bei Glücksspielen im Internet noch höhere Risiken bestehen als bei herkömmlichen Glücksspielen.

Laut Schätzungen haben in der Schweiz letztes Jahr mehr als drei Millionen Menschen, der über 15-Jährigen um Geld gespielt. Dabei sind die Online-Geldspiele noch nicht einmal berücksichtigt. Davon gelten knapp 200.000 als moderat riskante Spieler und etwas über 75.000 als exzessive Spieler. Bei Letzteren werden je nach Problemausprägung die problematischen Spieler, rund 47.000 von den pathologischen Spielern, ungefähr 28.000, unterschieden. Konsequenzen des exzessiven Spiels seien Privatkonkurs und Familienprobleme, so die Stiftung.

Zugänglichkeit: an jedem Wochentag, rund um die Uhr und überall
Heute kann man rund um die Uhr Alkohol kaufen, oft zu niedrigen Preisen, oder im Internet um Geld spielen. Auch zu Cannabis, Kokain oder Ecstasy kommt man in Schweizer Städten schnell und relativ problemlos, was nicht ohne Folgen auf den Gebrauch von Substanzen und Glücksspielen bleibt, heisst es im Bericht.

Manche Verhalten verändern sich, aber die Mehrzahl der Folgeprobleme bleibt
Der Tabak bleibt die wichtigste Ursache für frühzeitige Todesfälle in der Schweiz und der Alkohol folgt auf dritter Position. Psychoaktive Substanzen und das Glücksspiel hängen jedes Jahr mit insgesamt mehr als 10.000 Todesfällen zusammen und mit sozialen Kosten, die 10 Milliarden Franken übersteigen. Erwähnt werden müssten laut der Stiftung auch das Leid der mehreren Hunderttausend abhängigen Menschen sowie der Nahestehenden und die – meist alkoholbedingten – Folgeprobleme, welche mehr als die Hälfte der Bevölkerung betreffen würden.

Die Politik soll eine kohärente, glaubwürdige und wirksamen Suchtpolitik führen
"Es ist höchste Zeit, dass die Schweiz eine kohärente Suchtpolitik entwickelt, gerade für besonders gefährdete Personengruppen", betont Irene Abderhalden, Direktorin von Sucht Schweiz.

Politik der Widersprüche beenden
Zum ersten Mal prüfen die beiden Parlamentskammern die Gesetzgebungen zu Alkohol, Tabakerzeugnissen und Glücksspiel parallel, schreibt Sucht Schweiz. Dies wäre eine Gelegenheit, um einen glaubwürdigen und effizienten Ansatz für den Suchtbereich zu entwickeln. Tatsächlich würden die drei Gesetze so behandelt, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Und um die Inhalte jedes dieser Gesetze feilschten Interessengruppen. Es müsse mühsam um jeden Franken für die Prävention und um jede strukturelle preis- oder zugangsorientierte Präventionsmassnahme gekämpft werden, deren Wirksamkeit bereits nachgewiesen sei.

Suchtprobleme seien aber nicht nur Probleme einzelner Individuen so die Stiftung, sondern auch Probleme der ganzen Gesellschaft. Der Markt beeinflusse stark das Verhalten von Individuen, gerade von besonders gefährdeten Personen. Der Erhältlichkeit und der Anpreisung von Alkohol, Tabak oder Glücksspielen Grenzen zu setzen, würde eigentlich nur bedeuten, einen Markt zu regulieren, den man in letzter Zeit mehr und mehr sich selbst überlassen habe ohne ihm Schranken zu setzen. Wer Suchtprobleme reduzieren wolle, müsse den Markt wirksamer regulieren und parallel dazu der Prävention, der Schadensminderung und der Behandlung Mittel zur Verfügung stellen, fordert Sucht Schweiz.

Link zum ausführlichen Mediendossier des „Suchtpanoramas Schweiz 2015“:
http://www.suchtschweiz.ch/aktuell/medienmitteilungen/article/eine-politik-der-widersprueche/?tx_ttnews%5BbackPid%5D=1324&cHash=326190443bcf09c611da8aa8605eedd1

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