Deserteurdenkmal, zwischen Stephansplatz und Dammtor in Hamburg © Foto: Holger Teubert/APD

Deserteurdenkmal in Hamburg eingeweiht - „Das Umdenken kam beschämend spät“

Hamburg/Deutschland | 25.11.2015 | APD | International

Ein Denkmal für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz wurde am 24. November in Hamburg zwischen Stephansplatz und Dammtor eingeweiht. Nach viereinhalbmonatiger Bauzeit eröffnete Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz den Gedenkort, gestaltet nach dem Entwurf von Volker Lang, gemeinsam mit dem Hamburger Künstler und Ludwig Baumann, Vorsitzender der „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“ und selbst Deserteur. Mit dem Deserteurdenkmal soll ein wichtiges politisches Zeichen für Zivilcourage und Gerechtigkeit gesetzt werden.

„Das Umdenken kam spät. Nicht zu spät, aber doch beschämend spät“, betonte der Erste Bürgermeister Olaf Scholz in seiner Ansprache. Erst 2002 seien die Urteile der Militärgerichte gegen Deserteure der Wehrmacht aufgehoben worden. „Wenn wir heute in Hamburg den Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz einweihen, dann bin ich auch erleichtert, dass es endlich soweit ist.“ Mit seiner Platzierung zwischen dem umstrittenen monumentalen Kriegerdenkmal des Infanterie-Regiments „Hamburg“ Nr. 76 aus dem Jahr 1936 und dem Fragment gebliebenen Gegendenkmal von Alfred Hrdlicka setze die Hansestadt an einer zentralen Stelle ein „unmissverständliches Zeichen“.

Die Opfer der Wehrmachtsjustiz aus der Anonymität zurückgeholt
Künstler Volker Lang habe mit dem transparenten, offenen und begehbaren Denkmal die Opfer der Wehrmachtjustiz aus der Anonymität zurückgeholt, hob Kultursenatorin Professorin Barbara Kisseler hervor. „Damit erhalten sie die Würde zurück, die ihnen das NS-Regime nahm.“ Der Gedenkort solle Anstösse liefern und zur Auseinandersetzung über Fragen der Gerechtigkeit, der Menschenwürde und der Zivilcourage einladen. Er fordere Reflektion über die Ursachen von Kriegen und ihren Folgen wie Zerstörung, Vertreibung und Flucht. Dadurch sei das Denkmal sehr aktuell.

Mit dem Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz sollen diese lange Zeit nicht anerkannten Opfer des Nationalsozialismus angemessen gewürdigt werden, erläuterte Bildhauer Volker Lang. Er entwarf einen transparenten Baukörper in der Form eines gleichseitigen Dreiecks zwischen dem 76er-Denkmal von Richard Kuöhl von 1936 und dem unvollendeten „Mahnmal gegen den Krieg“ des Wiener Bildhauers Alfred Hrdlicka aus den Jahren 1983 bis 1986. Zwei der drei Wände sind aus bronzenen Schriftgittern gebildet. Eine Betonwand schliesst den Raum zum Dammtordamm ab. Die Texte der Schriftgitter sind dem Werk „Deutschland 1944“ des Autors Helmut Heissenbüttel (1921-1996) entnommen, das auch als Audioinstallation am Ort zu hören ist. Die historischen Informationen zum Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz sind als Text auf der Betonwand angebracht. Der Gedenkort wird durch acht grossformatige Informationsstelen ergänzt, die in den nächsten Tagen und Wochen an den historischen Stätten der Wehrmachtjustiz, den ehemaligen Gerichtsgebäuden, den Haft- und Vollstreckungsorten und auf dem Ohlsdorfer Gräberfeld errichtet werden. Eine Broschüre zum Gedenkort ist unter www.hamburg.de/gedenkort-fuer-deserteure als Download verfügbar.

Ein Traum wird wahr
Ludwig Baumann (94), Vorsitzender der „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“, dankte der Stadt Hamburg für den Gedenkort. „Das ist für mich eine bewegende Stunde und mir geht heute ein später Traum in Erfüllung.“ Er erinnerte an den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 13. Mai 1997: „Der 2. Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.“

Als Fahnenflüchtiger zum Tode verurteilt und geächtet
Baumann schilderte aus eigener Erfahrung, was es bedeutet habe, ein Wehrmachtsdeserteur zu sein. Als 19-Jähriger wurde er zur Kriegsmarine eingezogen. Am 3. Juni 1942 desertierte er zusammen mit einem Kameraden bei Bordeaux in Frankreich, weil er erkannt habe, „dass es ein verbrecherischer, völkermörderischer Krieg war“. Am Tag der Desertion verhafteten ihn deutsche Grenzposten. Am 30. Juni 1942 wurde er wegen „Fahnenflucht im Felde“ zum Tod verurteilt. Davon, dass das Todesurteil in eine zwölfjährige Zuchthausstrafe umgewandelt wurde, erfuhr Baumann erst nachdem er Monate in Todesangst in der Todeszelle eines Wehrmachtsgefängnisses verbracht hatte. Er kam als Häftling ins KZ Esterwegen im Emsland und danach ins Wehrmachtsgefängnis Torgau. Er überlebte verwundet den Einsatz in einem Strafbataillon, in der sogenannten Bewährungstruppe 500, in besonders gefährdeten Abschnitten an der Ostfront.

Nach der Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft hatte er es schwer in einer Gesellschaft, in der Deserteure noch immer als „Feiglinge“ geächtet wurden. 1990 gründete er mit etwa 40 noch lebenden Wehrmachtdeserteuren sowie einigen engagierten Wissenschaftlern und Historikern die „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“. Ziel der Vereinigung war eine Aufhebung der Unrechtsurteile gegen Deserteure, „Wehrkraftzersetzer“, „Kriegsverräter“, Selbstverstümmler und andere Opfer der NS-Militärjustiz durchzusetzen, sowie deren vollständige Rehabilitierung. Das wurde mit dem Änderungsgesetz vom 23. Juli 2002 und dem Zweiten Änderungsgesetz vom 24. September 2009 des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile (NS-AufhG) von 1998 erreicht.

„Ein Beitrag für den Frieden“
Insgesamt seien laut Baumann während des Zweiten Weltkrieges über 30.000 Deserteure zum Tod verurteilt und davon rund 23.000 hingerichtet worden. Mehr als 100.000 von der NS-Militärjustiz verurteilte Soldaten hätten KZ, Straflager und Strafbataillon nicht überlebt. Erst in seinem Grundsatzurteil vom 16. November 1995 habe der Bundesgerichtshof die Wehrmachtjustiz als eine „Blutjustiz“ gebrandmarkt, „deren Richter sich wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verantworten müssen“. Doch nicht einer der Wehrmachtrichter sei in der Bundesrepublik Deutschland jemals bestraft worden. Der Friedensaktivist zeigte sich davon überzeugt, dass auch heute Kriegsverrat „ein Beitrag für den Frieden und eine gerechtere Welt“ wäre.

Gedenkstätte auch für Kriegsdienstverweigerer
Historiker weisen darauf hin, dass zu den „anderen Opfern der NS-Militärjustiz“ auch die Gruppe der Kriegsdienstverweigerer gehöre, die bereit gewesen sei, für ihre Überzeugung keine Waffe in die Hand zu nehmen, in den Tod zu gehen.

August Dickmann wurde als erster deutscher Kriegsdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg am 15. September 1939 öffentlich hingerichtet. Er war Zeuge Jehovas. Nach Angaben von Historikern wurden bis 1945 etwa 250 deutsche und österreichische Zeugen Jehovas vom Reichkriegsgericht wegen Kriegsdienstverweigerung zum Tode verurteilt und in der Regel durch das Fallbeil getötet.

Namentlich sind elf römisch-katholische Kriegsdienstverweigerer bekannt, die im Zweiten Weltkrieg hingerichtet wurden. Hermann Stöhr ist der einzige bekannte Christ einer evangelischen Landeskirche, der als Kriegsdienstverweigerer vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt wurde. Aus den Freikirchen wurden wegen Kriegsdienstverweigerung neun Adventisten, ein Baptist und ein Mitglied der Gemeinschaft der Christadelphian hingerichtet.

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