Heiner Bielefeldt © Foto: Herbert Bodenmann/APD Schweiz

Religionsfreiheit schützt nicht nur die Rechte der Frommen

Luzern/Schweiz | 01.12.2017 | APD | Religionsfreiheit

Am 30. November und 1. Dezember 2017 fanden an der Universität die "Luzerner Adventsgespräche zur Verfassung" statt. Die Organisatoren wollten aktuelle Entwicklungen im Bereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) sowie Lösungswege für im Alltag anstehende Konflikte im Rahmen einer pluralistischen, dem friedlichen Zusammenleben verpflichteten Rechtsgemeinschaft diskutieren. Die Themen wurden interdisziplinär, aus juristischer, theologischer, philosophischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive besprochen.

Prof. Dr. Julia Hänni hielt einleitend fest, dass Religion in der Schweiz insofern Privatdache sei, als sich der Staat nicht über deren Richtigkeit auslässt. Das Bundesgericht habe Schutz- und Eingriffsfunktion. Am Beispiel von vier Urteilen des Bundesgerichts gab sie einen Überblick über die Rechtsprechung bezüglich Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Schweiz: Im Fall St. Margrethen wurde einer muslimischen Schülerin die Teilnahme am Schulunterricht mit einem Kopftuch geschützt. Ihre Haltung sei als Ausdruck der eigenen Religionsüberzeugung gewertet worden, welche die Glaubens- und Gewissensfreiheit Dritter nicht massiv einschränke.

Yoga-Übungen im Kindergarten stufte das Bundesgericht nicht als religiöse Praktik ein, sondern als motorische Übungen.

Das Singen von christlichen Liedern in der öffentlichen Schule, zum Beispiel in der Adventszeit, habe keinen zeugnishaften religiösen Charakter und sei deshalb zulässig.

Die Eröffnung eines muslimischen Kindergartens wäre zwar prinzipiell möglich und durch die Religionsfreiheit geschützt, da private Bildungsstätten religiöse oder konfessionelle Schwerpunkte setzen dürften. Entscheidend für die Bewilligung sei aber die Übereinstimmung mit den Werten der Volksschule, was offensichtlich nicht der Fall gewesen sei.

Die „Handschlag-Affäre“ von Therwil
Dr. Anne Kühler besprach unter dem Titel „Religionsfreiheit als Herausforderung“ die „Handschlag-Affäre“ von Therwil, bei der zwei muslimische Schüler der Lehrerin bei der Begrüssung den Händedruck verweigert haben. Beim Handschlag zwischen Mann und Frau gelte es, auch muslimische Auffassungen in Betracht zu ziehen, so Kühler. Es gebe eine, die besage, dass wenn man sich bei der Begrüssung nicht die Hände gebe, da dies ein Ausdruck des Respekts sei. Man schütze damit die Geschlechtergrenze. Beim Handschlag würden sich verschiedene Interessen gegenüberstehen, so Kühler. Es gehe um die Gleichstellung von Mann und Frau und nicht um eine Ungleichbehandlung je nach Geschlecht. Im Weiteren gehe es um die Integration der ausländischen Wohnbevölkerung durch die Einführung in ein selbstverantwortliches Leben bzw. die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Schweiz. Dann gelte es auch den schulischen Bildungsauftrag zu erfüllen und den Schulfrieden nicht zu gefährden. In der anschliessenden Diskussion wurde erwähnt, dass solche Fälle am besten vor Ort und ohne grosse mediale oder politische Einflussnahme zum Wohl aller Beteiligten am besten gelöst werden könnten.

Erfahrungen im Einsatz für die Religionsfreiheit weltweit
Bei der Religionsfreiheit gehe es darum, so Heiner Bielefeldt, ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit, Religion gegen Freiheit und Freiheit gegen Religion zu schützen.

Verletzungen
Es gebe bezüglich Religionsfreiheit viele Verletzungen, die unterhalb des Wahrnehmungsradars der Öffentlichkeit liegen würden. Präsent sei nur die Spitze des riesigen Eisbergs von Verletzungen der Religionsfreiheit und damit die ABC-Gesetze: Apostasiegesetze, gegen den Abfall von der Religion, zum Beispiel im Sudan; Blasphemiegesetze, gegen Kritik an der Religion, als Beispiel in Pakistan und die Anti-Bekehrungsgesetze (Conversion) in Indien. In Russland seien die Jehovas Zeugen unter dem Titel „Extremismusbekämpfung“ im Namen eines säkularen Strafrechts verboten worden, so Bielefeldt.

Verbiegungen
Das Menschenrecht der Religionsfreiheit werde in gewissen Staaten als „Toleranz“ abgewertet, indem gewissen Religionsgruppen die Religionsfreiheit nicht in gleichem Mass gewährt werde, wie anderen, und sie nur in Nischen toleriert würden. Eine im Westen bekannte Form des Verbiegens der Religionsfreiheit sehe er in der Forderung des restriktiven Laizismus, der die Religion aus dem öffentlichen Leben in die Privatsphäre verbannen wolle: Freedom from religion.

Vorbehalte
Es gebe in einigen Staaten Vorbehalte gegenüber der Religionsfreiheit indem nur anerkannten Religionen die Religionsfreiheit gewährt werde. So müssten Christen in Vietnam dem Staat ein Jahresprogramm aller Aktivitäten in ihren Kirchen vorlegen und genehmigen lassen, sagte Bielefeldt.

Menschen, nicht Religionen sind geschützt
Wichtig sei, dass man verstehe, dass Religionsfreiheit ein Menschenrecht sei, das Menschen und nicht Religionen schütze. Es würden auch nicht nur die Rechte der „Frommen“ geschützt, denn die Formulierung dieses Menschenrechts laute: Freedom of thought, conscience, religion and belief: Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Das Menschenrecht der Religionsfreiheit sei auch für liberale Gesellschaften in westlichen Staaten unverzichtbar, so Bielefeldt. Sie schütze alle Menschen als überzeugungsbestimmte Lebewesen.

Weitere Themen und Referenten
Folgende Themen wurden von weiteren Fachleuten besprochen: Entwicklungen der Rechtsprechung auf europäischer Ebene, Prof. Dr. Sebastian Heselhaus; Der offene Religionsbegriff des säkularen Staates, Bundesrichter Dr. Peter Karlen; Öffentlich-rechtliche Anerkennung von Glaubensgemeinschaften, Prof. Dr. Regina Kiener; Die Anwendbarkeit des CEDAW-Übereinkommens bei diskriminierenden Religionspraktiken in der Ämterbesetzung, Prof. Dr. Denise Buser; Grundlagen und aktuelle Probleme der Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland, Prof. Dr. Peter Unru; Bund – Kanton – Gemeinde: Religionspolitik in der Schweiz seit 1990, Prof. Dr. phil. Antonius Liedhegener; Individuum contra Kollektiv, Prof. Dr. iur. can. et lic. theol. Adrian Loretan.

Gemäss Information von Prof. Dr. Adrian Loretan soll in rund einem Jahr ein Buch mit den Beiträgen aller Referenten und Referentinnen publiziert werden.

Organisatoren
Als Organisatoren der „Luzerner Adventsgespräche zur Verfassung“ fungierten drei Professoren der Universität Luzern: Prof. Dr. Julia Hänni, Assistenzprofessorin für Öffentliches Recht; Prof. Dr. Sebastian Heselhaus, Professor für Europarecht, Völkerrecht, Öffentliches Recht und Rechtsvergleichung; Prof. Dr. Adrian Loretan, Professor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht und Co-Direktor des Zentrums für Religionsverfassungsrecht.

Mehr Infos zur Tagung:
https://www.unilu.ch/fileadmin/fakultaeten/rf/haenni/Dok/Adventsgespraeche_Flyer_HD.pdf

(6299 Zeichen)
© Nachrichtenagentur APD Basel (Schweiz) und Ostfildern (Deutschland). Kostenlose Textnutzung nur unter der Bedingung der eindeutigen Quellenangabe "APD". Das © Copyright an den Agenturtexten verbleibt auch nach ihrer Veröffentlichung bei der Nachrichtenagentur APD. APD® ist die rechtlich geschützte Abkürzung des Adventistischen Pressedienstes.