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Buchrezension: Kirchliche Minderheiten im Schatten der lutherischen Reformation

Ostfildern/Deutschland | 24.09.2019 | APD | Buchrezensionen

Karl Heinz Voigt, Kirchliche Minderheiten im Schatten der lutherischen Reformation vor 1517 bis nach 2017, (Kirche – Konfession – Religion, Band 73), Göttingen: V & R unipress 2018, 382 Seiten, 40 Euro, gebunden, ISBN 978-3-8471-0803-0

Karl Heinz Voigt, Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche, weist in seinem neuen Buch nach, dass die frühen religionspolitischen Entscheidungen von 1530 und 1555 in Augsburg sowie 1648 im Westfälischen Frieden ihre Auswirkungen bis heute haben. Bereits zuvor im Jahr 1529 hatte der Reichstag zu Speyer entschieden, die Wiedertaufe mit der Todesstrafe zu ahnden. Diese drastische Massnahme gegen Andersgläubige machte deutlich, wohin der konfessionelle Weg in Deutschland gehen sollte.

Das Augsburger Bekenntnis wurde am 25. Juni 1530 in Augsburg vor Kaiser Karl V. und dem versammelten Reichstag lateinisch und deutsch verlesen und von einer Gruppe evangelischer Fürsten und Reichsstädte unterzeichnet. Die „Confessio Augustana“ (CA) führte zur Bildung einer neuen Konfession und vereint bis heute als Grundüberzeugung das weltweite Luthertum. Die CA hatte laut Voigt dauerhaft Einfluss auf die Beziehungen von Lutheranern zu anderen, erst später anerkannten oder auch neu entstandenen Kirchen. Sie führte zu einem ausgeprägten konfessionellen lutherischen Selbstbewusstsein, das über Jahrhunderte nicht nur von Abgrenzungen und Verwerfungen, sondern gegenüber den Täufern sogar von Verdammungen geprägt war.

Der Augsburger Reichstag von 1555 hob die Aufsicht der katholisch bischöflichen Jurisdiktion über solche Länder auf, deren Herrscher sich zum evangelischen Verständnis der Kirche bekannten. Katholiken und Lutheraner waren jetzt im Reich gleichberechtigt anerkannt. Zwar gab es „Religionsfreiheit“, doch diese stand nur dem Fürsten als „Landesvater“ zu. Bekannte er sich zum Luthertum, mussten alle seine Untertanen auch Lutheraner werden. Wer das nicht wollte, dem blieb nur die beschwerliche Auswanderung in ein Land seiner konfessionellen Wahl. Die Reformierten spielten in dieser Grundsatzvereinbarung nur insofern eine Rolle, als durch eine offizielle Erklärung zugesichert wurde, dass sie in einem lutherischen Gebiet weder zur Konversion gezwungen noch zur Auswanderung gepresst werden konnten. Die lutherischen Kirchen waren territorial organisierte Kirchen. Sie hatten weder eine gemeinsame Ordnung noch eine gemeinsame „Kirchenregierung“. Diese Territorialkirchen lebten von der Abgrenzung nicht nur gegenüber anderen Konfessionen, sondern mehrheitlich sogar gegenüber der eigenen konfessionellen Tradition im benachbarten Kleinstaat. Es handelte sich um Staatskirchen, deren Oberhaupt der Landesherr war. Dieses evangelische „Landesherrliche Kirchenregiment“ hielt sich in Deutschland über alle einschneidenden politischen Veränderungen hinweg bis zur grundlegenden Neuordnung durch die Weimarer Nationalversammlung im 20. Jahrhundert.

Im Dreissigjährigen Krieg (1618-1648) sollen in den deutschen Ländern etwa 40 Prozent der Bevölkerung ums Leben gekommen sein. Im Westfälischen Frieden von 1648 wurde festgelegt, dass es in Deutschland keine konfessionelle Vielfalt geben darf. Geduldet wurden nur drei Konfessionen: Katholiken, Lutheraner und Reformierte. Im Vertragswerk hiess es ausdrücklich am Ende des Artikels VII: „Ausser den zuvor erwähnten Bekenntnissen soll jedoch im Heiligen Römischen Reich kein anderes angenommen und geduldet werden.“ Die „Religionsfreiheit“ galt demnach nur für Angehörige der drei anerkannten Konfessionen.

Die im Vertragswerk nicht anerkannten Kirchen und Gemeinden mussten sich auflösen oder sie wurden, da ohne Rechtsgrundlage, in den Untergrund gedrängt. Einige konnten innerhalb kirchlicher Territorien überleben, weil dieser oder jener Landesherr durch spezielle Erlaubnis ihnen eine Art Asyl gewährte und damit bereit war, gegen die Beschlüsse von 1648 zu handeln. Andere nahmen die risikoreiche Auswanderung in aussereuropäische Gebiete in Kauf. In einem eigenen Kapitel legt der Autor dar, wie beispielsweise in der Pfalz, in Krefeld und Neuwied vertriebene Mennoniten Aufnahme fanden. In Württemberg und Hessen wurde den Waldensern die freie Religionsausübung erlaubt. In Waldeck-Pyrmont gab es für die Quäker eine spezielle „Duldungsakte“. Die Böhmischen Brüder fanden in Herrnhut und in der Wetterau Zuflucht. Doch das waren Ausnahmen.

Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in machen deutschen Staaten durch neue Grenzziehungen konfessionell gemischten Territorien. Protestantische und katholische Gemeinden kamen gemeinsam unter eine Regierung. Dadurch konnte der Grundsatz, dass der Landesherr die Konfession seiner Untertanten bestimmt, nicht mehr aufrechterhalten werden. Trotzdem gab es nur drei anerkannte Staatskirchen. Doch mit den Baptisten, Methodisten und anderen kamen neue, staatsunabhängige Kirchen ins Land. Für sie war es unvorstellbar, dass sie sich in Kirchenfragen an den Staat wenden mussten. Vergeblich forderten sie Glaubens- und Gewissensfreiheit. Karl Heinz Voigt macht an Beispielen deutlich, wie mit diesen Freikirchen umgegangen wurde: „Wenn baptistische Eltern die Taufe eines Kindes durch den Ortspfarrer ablehnten, führte das an manchen Orten unter dramatischen Umständen zur Zwangstaufe“ (195). „Die nicht staatlichen Minderheitskirchen [mussten] mit Kontrollen, polizeilichen Überwachungen, Versammlungsverboten und Ausweisungen rechnen“ (209). Im Zeitalter des Nationalismus wurden die Freikirchen als „fremde“ und „nichtdeutsche Sekten“ diskriminiert.

Selbst als es möglich wurde, aus einer Staatskirche auszutreten und sich einer Minderheitskirche anzuschliessen, bedeutete das „noch lange keine konfessionelle Gleichberechtigung“ (222). „Es gab spezielle Bauvorschriften für nicht staatliche Religionsgemeinschaften. In Berlin war es beispielsweise den nichtanerkannten Kirchen nicht erlaubt, ihre Gebäude mit Turm und Glocke zu errichten. Sie durften nicht einmal als ‚Kirchen‘ bezeichnet werden. Also bauten sie schlichte Kapellen. Auch in der Wahl ihrer Bauplätze waren sie nicht frei. Von der Strassenfront waren sie verbannt in die Reihe dahinter…“ (227). Eingehend befasst sich Voigt mit den Problemen, die sich für Mitglieder von Freikirchen bei der Bestattung auf Friedhöfen in konfessionellem Eigentum ergaben. Sie waren von einer christlichen Bestattung ausgeschlossen. Die Trauergemeinde stand „nicht am normalen Reihengrab, sondern im äussersten Friedhofswinkel an der Begrenzungsmauer“ (240). Den freikirchlichen Geistlichen war auf dem Friedhof das Halten von Grabreden oder sogar ein Gebet oft untersagt. Fast ein Jahrhundert lang gab es diese Probleme. „Nachdem 1948 die ‚Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen‘ (ACK) gebildet war, wurden nacheinander zwischenkirchliche Problemzonen aufgebarbeitet. Das erste (!) Feld, das thematisiert wurde, waren die Probleme auf kirchlichen Friedhöfen“ (235). In der Regel wurden die Freikirchen als „Sekten“ diskriminiert, „wo es aber um Geld ging, waren sie ‚Evangelische‘“, denn deren Mitglieder sollten an die Landeskirchen Kirchensteuer zahlen (233).

„Es ist heute schwer vorstellbar, dass bis 1919 in den Bundesländern die Ausübung eines politischen Mandats, die berufliche Tätigkeit als Beamter im Staatsdienst und auch die Berufung auf einen Lehrstuhl, egal welcher Fakultät, an die Mitgliedschaft in einer der drei anerkannten Konfessionen gebunden war. Lediglich der Militärdienst machte für die unteren Ränge eine Ausnahme“, so Voigt (245). Erst die Weimarer Verfassung sicherte allen Bewohnern des Deutschen Reichs die „volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ sowie eine „ungestörte Religionsausübung“ zu. Erstmals waren weder bürgerliche Rechte noch die Zulassung zu öffentlichen Ämtern an eine Konfession gebunden. Die Freikirchen konnten die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts beantragen und wurden durch deren Verleihung den bisher anerkannten Kirchen rechtlich gleichgestellt. „Für die Freikirchen erwies sich das Ende des Kaiserreichs in rechtlicher Hinsicht“, laut Karl Heinz Voigt, „als ein Quantensprung. Dagegen war für die bisherigen Staatskirchen das Ende einer jahrhundertelangen Tradition kurzfristig gesehen ein Schrecken auslösender Verlust“ (249f.). Doch über lange Zeiträume eingeübte Verhaltensweisen und Mentalitäten veränderten sich nicht so schnell. Auch dies belegt der Autor durch eine Reihe von Beispielen. Er beleuchtet in einem weiteren Kapitel die Schwierigkeiten, die sich in der NS-Zeit für die Freikirchen ergaben, um sich anschliessend mit der Nachkriegszeit zu befassen.

Es waren vor allem Freikirchen aus den USA, wie die Quäker, Baptisten und Methodisten, die Hilfsgüter in das zerstörte Deutschland sandten. So entstand für die Verteilung ein gemeinsames „Hilfswerk der evangelischen Kirchen in Deutschland“, in dessen Leitungsorgan die Mitgliedskirchen der freikirchlichen Vereinigung (VEF) und der evangelischen Landeskirchen gleichberechtigt vertreten waren. 1948 wurde die „Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen“ (ACK) gegründet, zu der die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und einige Freikirchen gehörten. Als Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) trat auch die römisch-katholische Kirche 1974 der ACK bei. Im selben Jahr folgte die Griechisch-Orthodoxe Metropolie. Voigt geht kurz auf die Leuenberger Konkordie von 1973 mit der Abendmahlsgemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten ein. 1987 kam es erstmals in Deutschland auch zu einer Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft mit einer Freikirche, nämlich zwischen den Gliedkirchen der EKD und der Evangelisch-methodistischen Kirche.

Der Autor spricht beim Staatskirchentum von einem „europäischen Unikat“ und „Sonderweg“ (311), dessen in Jahrhunderten gezogene Spuren durch die Verfassungsänderung von 1919 nicht ausgelöscht wurden. Die Entfaltung reformatorischen Denkens führte in den verschiedenen Kontinenten durch die völlig anderen Lebens- und Gestaltungsbedingungen zu einem konfessionellen und denominationellen Pluralismus. „Es ist weder in den USA noch in einem afrikanischen Staat nachvollziehbar, wie durch einen Umzug einer Familie aus Itzehoe an einen neuen Arbeitsplatz nach Berlin beim Überschreiten der unsichtbaren Landesgrenzen aus Lutheranern unversehens Unierte werden“, so Voigt (310). Auch dass der Staat die Kirchensteuer berechnet und nach Abzug eines Entgelts an die für Berlin zuständige neue Kirche weiterleitet, erscheint unverständlich. Denn die Kirchen vertrauten den Behörden, dass sie nur solche Zuzüge an die Kirchen weitermeldeten, welche die Taufe empfangen haben. „Leider sind die Meldungen an die Kirchen manchmal fehlerhaft, so dass es bei Freikirchlern immer wieder einmal zu unfreiwilligen Konfessionswechseln kommt, die in manchen Regionen nur durch einen formellen Austritt nach dem unfreiwilligen Eintritt geregelt werden können“, beklagt Karl Heinz Voigt (310).

In seinen Schlussgedanken betont der Autor: „Wer im 21. Jahrhundert über die Einheit nachdenkt, darf sich nicht auf die Bilder der römisch-katholischen und der lutherischen Kirchen konzentrieren“ (335). Denn in England gebe es nur eine „Handvoll Lutheraner“ und in den USA gehöre ein beachtlicher Teil der Christenheit zu den unabhängigen Kirchen. Baptisten, Methodisten, Adventisten und viele andere, die in Deutschland kirchliche Minderheiten sind, bilden in anderen Ländern und Kontinenten Mehrheiten, die in ihren jeweiligen Ländern mit allen christlichen Kirchen auf Augenhöhe leben. Voigt skizziert in einigen Thesen, welche theologischen und gesellschaftlichen Verluste dadurch entstanden seien, dass seit 1648 ein einziger Satz in den Beschlüssen des Westfälischen Friedens kirchliche Minderheiten marginalisiert und damit ausgelöscht hat. So wird als „Sonderweg“ deutlich, warum die Freikirchen in Deutschland, im Gegensatz zu anderen Ländern und Kontinenten, „im Schatten der lutherischen Reformation“ blieben. Es ist zu wünschen, dass das neue Buch von Karl Heinz Voigt, welches den Blick über den kirchlichen Horizont in Deutschland hinaus weitet, nicht nur bei Theologen und Historikern Beachtung findet.

Holger Teubert

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