Werden die einheimischen Christen im Irak überleben?

Basel/Schweiz | 09.05.2004 | APD | International

Ein Bericht über die Lage der Chaldo-Assyrer

Von Christian B. Schäffler (APD)

Basel/Schweiz, 09.05.2004/APD Die brennende Frage "Gibt es für die Christen die Hoffnung, im Irak verbleiben zu können?" begleitete kürzlich eine Delegation der im Irak lebenden Volksgruppe der christlichen Assyrer während einer Besuchsreise zu verschiedenen europäischen Institutionen in Brüssel. Die im mesopotamischen Zweistromland lebenden christlichen Assyrer bezeichnen sich heute – aufgrund des Mehrheitsstatus der Chaldäisch-katholischen Kirche - als "Chaldo-Assyrer."


Gibt es für die Christen die Hoffnung, im Irak verbleiben zu können?

Nach Ansicht des Delegationsmitglieds Eden Naby wird es nur Hoffnung geben, "wenn die internationale Gemeinschaft dafür sorgt, dass ihre Hilfe gerecht und ohne Diskriminierung verteilt wird, wenn Mechanismen zur Überwachung der administrativen und juristischen Schritte der Kurden im Zusammenhang mit der Rückgabe von Land und unrechtmässig konfisziertem Eigentum an die Chaldo-Assyrer eingeführt werden und die zukünftige irakische Verfassung den einheimischen Christen des Irak ein echtes Stimmrecht einräumt." Damit dies Wirklichkeit wird, benötigen die Chaldo-Assyrer die Unterstützung der Europäischen Union und der internationalen Völkergemeinschaft, sagte Naby.

Die irakische Delegation wies in Brüssel am Beispiel des Schicksals der christlichen Gemeinschaft der Chaldo-Assyrer auf die Probleme der rund 670 000 Christen im Irak nach dem Fall des Regimes von Saddam Hussein hin.


Die Assyrer bekennen sich zum Christentum der Syrischen Kirchen

Das Volk der christlichen Assyrer lebt gegenwärtig in den Nahoststaaten Irak, Iran, Syrien, Türkei, Libanon sowie in westlichen Ländern und in Übersee. Die Assyrer sind die Nachfahren der Christen des Vorderen Orients, die seit dem 3. Jahrhundert im Gegensatz zur byzantinischen Reichskirche selbständige (autokephale) Kirchen gründeten und nicht das Griechische, sondern das Syrische als Liturgie- und Theologiesprache verwendeten. Sie selbst führen ihre Existenz auf die altorientalischen Völkerschaften der Assyrer, Babylonier und Aramäer zurück, die seit der 2. Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. in Syrien und Mesopotamien ansässig wurden.

Die Assyrer bekennen sich zu zwei selbständigen (autokephalen) syrischen Hauptkirchen: zu der schon im 3. Jahrhundert entstandenen ostsyrische Kirchenfamilie der "Alten Apostolischen Kirche des Ostens" (Nestorianer) und zu der im 5. Jahrhunderts entstandenen westsyrischen Kirchenfamilie der "Kirche von Antiochien und dem Gesamten Osten" (Jakobiten), die als Syrisch-Orthodoxe Kirche bekannt ist. In den folgenden Jahrhunderten spalteten sich die mit dem päpstlichen Rom unierte "Chaldäisch-katholische Kirche" und die ebenfalls mit Rom unierte "Syrisch-katholische Kirche" (auch Syrianische Kirche genannt) sowie die "Assyrisch-Evangelische Kirche" von den beiden ursprünglichen Hauptkirchen ab. Orientalische Kirchen die den Papst in Rom als Kirchenoberhaupt anerkennen bezeichnet man als "mit Rom uniert." So entstanden insgesamt fünf assyrische Konfessionen.

Der unierte Zweig, die Chaldäisch-katholische Kirche, entstand im 16. Jahrhundert, als einflussreiche Bischöfe das System der erblichen Patriarchennachfolge (vom Onkel auf den Neffen) nicht mehr akzeptieren wollten. Die Chaldäisch-katholische Kirche und die "Alte Apostolische Kirche des Ostens" haben in den letzten Jahren einen viel versprechenden Dialog aufgenommen, der bereits zu zahlreichen gemeinsamen pastoralen Projekten geführt hat.


Verfolgung der Assyrer im Irak

Im Irak bilden die Assyrer mit rund 1,5 Millionen Menschen nach den Arabern und Kurden die drittstärkste Bevölkerungsgruppe. Nach dem Machtantritt der Baath-Partei unter Saddam Hussein (1968) begann für sie eine besondere Leidenszeit: Immer wieder wurden grössere Gruppen verhaftet, wurden Menschen hingerichtet. Zahlreiche assyrische Intellektuelle "verschwanden" - über ihr Schicksal herrscht zum Teil bis heute Ungewissheit. Systematisch wurden unter Saddam Hussein etwa 200 assyrische Dörfer von der Armee zerstört. 150 Kirchen und Klöster wurden dem Erdboden gleichgemacht. Viele Assyrer wurden, wie die Kurden, in so genannte "Modelldörfer" deportiert, die Internierungslagern glichen. Schon der erste Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak forderte etliche Menschenleben in der männlichen assyrischen Bevölkerung. Etwa 40 000 Assyrer wurden Opfer von Genozid. Zu ihnen gehören auch 2 000 assyrische Opfer der Giftgasangriffe, die das Saddam-Regime 1988 gegen Siedlungen und Städte der Kurden und Assyrer im Nordirak (Halabdja) durchführte. Unter den Flüchtlingen aus dem Nordirak, die im Frühjahr 1991 nach dem 2. Golfkrieg in die Nachbarstaaten Türkei und Iran flohen, befanden sich auch Zehntausende Assyrer. Nachdem die Alliierten nördlich des 36. Breitengrades im Nordirak eine Schutzzone eingerichtet hatten, entschloss sich die Mehrzahl dieser Flüchtlinge, in ihre zerstörten Dörfer zurückzukehren. Unter dem Schutz der Alliierten konnte sich Irakisch-Kurdistan zu einem autonomen, selbstverwalteten Föderalstaat entwickeln, in dem Kurden und Assyrer gleichberechtigt zusammenleben könnten. Doch der Konflikt zwischen den beiden grossen Kurdenparteien, die Besetzung assyrischer Dörfer durch Kurden und Anschläge auf assyrische Politiker haben viel von diesen Hoffnungen zunichte gemacht.

Aufgrund des Widerstands der Chaldo-Assyrer gegen das Baath-Regime schloss Bagdad diese ethnische und religiöse Minderheit von der Volkszählung aus. Durch die kontinuierliche Auswanderungsbewegung seit Beginn des 20. Jahrhunderts leben heute in der Diaspora - vor allem in den USA - fast genau so viele chaldäisch-katholische Christen wie in der einstigen Heimat. In einigen nordamerikanischen Städten wie Detroit oder San Diego gibt es ganz chaldäisch geprägte Stadtviertel. In den letzten Jahrzehnten sind neue Diözesen in Nord- und Südamerika, Europa und Australien entstanden.


Mit der neuen Wirklichkeit konfrontiert

Der durch Krieg erzwungene Regierungs- und Machtwechsel in Bagdad hat die Lebensbedingungen der Chaldo-Assyrer bisher kaum verbessert. Zum ersten Mal in der modernen Geschichte wurde zwar ihre Existenz im Übergangsrecht anerkannt, welches im März 2004 verabschiedet wurde. Dieses gleiche Recht stellt jedoch die meisten Dörfer der Chaldo-Assyrer unter kurdische Herrschaft, ungeachtet der historischen Christenverfolgung durch die sunnitischen Kurden und den Unterdrückungen aus jüngerer Zeit in den drei kurdisch-kontrollierten Regionen im Norden des Irak.

Während die Christen in den im Jahr 2003 von den Amerikanern geschaffenen Stadträten von Kirkuk und Mosul vertreten sind, haben sie in den Stadträten der kurdisch kontrollierten Gebiete kein Stimmrecht. Im gleicher Weise hat die kurdische Verwaltung verhindert, dass die zweitgrösste Volksgruppe im Norden des Landes in den Genuss der Vorteile des "Öl für Nahrungsmittel" -Programms, der UN-Wiederaufbauhilfe, der medizinischen Hilfe oder anderer Hilfsmassnahmen gelangt. Die Aussichten auf Besserung bleiben in einer Zeit, in der christliche Amtsträger in grösseren Städten wie Mosul nach wie vor Zielscheiben von Mordanschlägen sind, bescheiden.


Christliche Kirchen fordern verfassungsmässige Rechte

In der neuen irakischen Verfassung sollen die Assyrer aller Konfessionen (Assyrisch, Chaldäisch, Malekitisch und Syrisch) als Urvolk des Zweistromlandes und nationale Identität anerkannt und die Rechte der Assyrer gesichert werden. Den Vertrieben des assyrischen Volkes soll die Rückkehr in ihre Dörfer gesichert werden. Die Besitztümer der Vertriebenen, die auf illegaler Art und Weise entnommen wurden, sollen wieder an ihre rechtmässigen Besitzer zurückgegeben werden.

Seit dem Sturz Saddam Husseins kämpfen die irakischen Christen öffentlich um ihre Rechte. Die Patriarchen und Bischöfe der christlichen Kirchen im Irak forderten erstmals im Mai 2003 in einer gemeinsamen Erklärung, dass in der neuen Verfassung des Landes alle Menschenrechte, einschliesslich der Religionsfreiheit, verankert werden und riefen zu einem "Dialog der Brüderlichkeit und Gleichberechtigung" der irakischen Muslime und Christen auf. Die Leiter der Assyrischen, Syrischen und Chaldäischen Kirche trafen sich im November 2003 in Bagdad zu einer gemeinsamen Konferenz und beschlossen, in Zukunft vereint als "Chaldo-Assyrer" auftreten, um ihren Forderungen nach verfassungsmässiger, politischer und sprachlicher Anerkennung im neuen Irak mehr Gewicht zu verleihen. Unter Saddam Husseins Regime wäre ein solcher Vorstoss undenkbar gewesen.

Sollten sich im langen Prozess der "Demokratiebildung" die Durchsetzung der Menschenrechte als unabdingbare Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben und damit die Lebensbedingungen der Chaldo-Assyrer nicht spürbar verbessern, so steht diese christliche Gemeinschaft möglicherweise vor dem endgültigen Exodus aus ihrem Heimatland Mesopotamien, das in weiten Teilen zum heutigen Irak gehört.

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