Prodi warnt davor, die Türkei wegen des Islam abzuweisen

Lille/Frankreich | 30.09.2004 | APD | Religion + Staat

EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hat sich bei der 100-Jahr-Feier der "Semaines Sociales de France" (SSF) im nordfranzösischen Lille dagegen ausgesprochen, in der Frage des EU-Beitritts der Türkei mit kulturellen Gründen zu argumentieren. Prodi sprach sich bei der römisch-katholischen Grossveranstaltung dafür aus, den möglichen Beginn von Verhandlungen mit Ankara nur auf der strikten Basis der Kriterien Menschenrechtsstandards, Demokratiestandards und Rechtsprechung zu prüfen.

Wer das Wort Kultur gebrauche, sollte sich bewusst sein, dass es ambivalent sei, betonte der Kommissionsvorsitzende. Kulturelle Unterschiede existierten überall in Europa. Die Europäische Union sei kein Zusammenschluss homogener Länder. Die EU-Kommission entscheidet am 6. Oktober über die Frage eines Avis für die Türkei. Ein Avis bedeutet den Beginn von Beitrittsverhandlungen.

Prodi bezeichnete die EU als das wahrscheinlich bedeutsamste Positiv-Projekt des 20. Jahrhunderts. Europa solle auch Beispiel sein vor allem für Afrika, das nur durch Zusammenarbeit Fortschritte machen könne.

In einem Interview für die Tageszeitung "La Croix" übte der frühere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors Kritik an Politikern, die sich gegen einen Beitritt der Türkei aussprechen, weil das Land islamisch sei. Einige, die gegen jeden Bezug auf die Rolle der Religion in der europäischen Geschichte waren, als es um die Präambel ging, betonen jetzt die Religion, um den Türken den Zugang zu verwehren, so Delors.

Gegen einen Beitritt der Türkei sprach sich in "La Croix" hingegen der Historiker Jacques Le Goff aus. Le Goff sagte, das Problem sei nicht der Islam, sondern die Ausdehnung der Grenzen Europas de facto bis nach Mesopotamien und die damit erfolgende Überdehnung. Bis wohin soll
denn Europa gehen? Es ist notwendig zu wissen, wo Halt gemacht werden muss, erklärte der Historiker.

Der Gründer der katholischen Laienbewegung "Sant'Egidio", Professor Andrea Riccardi, sagte in Lille, die Europäische Union werde ein "Schmelztiegel" werden. Der Versuch, sich abzuschotten, wäre falsch. In dieser geänderten Situation habe das Christentum viele Chancen, die es noch nicht wahrgenommen habe. Gerade die "Märtyrer des 20. Jahrhunderts" in den KZs und Gulags hätten diesbezüglich viel vorausgeahnt. Ihr Vermächtnis müsse für heute entdeckt werden. Riccardi wies auch darauf hin, dass die "Semaines Sociales" schon vor 1939 in die Zukunft weisende Wege gezeigt hätten. Damals sei Paris die grösste römisch-katholische Metropole gewesen, aber auch schon stark entchristlicht. In den "Semaines Sociales" sei es um eine neue Präsenz des Christentums in einer entchristlichten Umwelt gegangen.

Was sich im europäischen Christentum abzeichne, sei "mehr Mitgefühl und mehr Gespräch". Vielleicht werde dies prägend in der Zukunft werden - "ohne aber schon zu wissen, wie die Probleme gelöst werden können". Riccardi betonte auch, das Christentum sei "eine schwache Kraft" im Verhältnis zu den Kräften der Zerstörung. Das zeige die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts.

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