Berliner Gericht: Zeugen Jehovas müssen als Körperschaft anerkannt werden

Berlin/Deutschland | 25.03.2005 | APD | Religion + Staat

Das Oberverwaltungsgericht Berlin hat heute der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas zugestanden, als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt zu werden. Für das Land Berlin ist dieses Urteil des Oberverwaltungsgerichts eine klare Niederlage. Der neue Status ermöglicht den Zeugen Jehovas unter anderem, Kirchensteuern zu erheben. Zudem ist damit das Recht verbunden, Vertreter in die Aufsichtsgremien öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten zu entsenden sowie eigene Beamte anzustellen. Die Körperschaften stehen aber unter staatlicher Aufsicht.

Die Zeugen Jehovas kündigten jedoch an, keine Kirchensteuer erheben zu wollen. Das Recht, Religionsunterricht zu erteilen, bleibt dem Richter zufolge unberührt. Das Gericht begründete die Entscheidung damit, dass es keine objektiven Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Religionsgemeinschaft nicht rechtstreu sei.

"Es gibt keine Auskünfte von Familiengerichten oder Schulpsychologen, die belegen, dass die Zeugen Jehovas eine Drucksituation aufbauen, wenn sich ein Familienmitglied von der Gemeinschaft abwendet", sagte der Vorsitzende Richter Jürgen Kipp. Die Aussagen von Aussteigern reichten nicht aus, weil erst ihr psychischer Hintergrund überprüft werden müsse.

Der Rechtsstreit zog sich seit Jahren durch die deutschen Instanzen, weil das Land Berlin den Zeugen Jehovas die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts verweigert hatte.

Der Fall ging bereits bis vor das Bundesverfassungsgericht und wurde dann vom Bundesverwaltungsgericht wieder an Berlin zurückverwiesen. Die Karlsruher Richter hatten geurteilt, die Religionsgemeinschaft sei keine reale Gefahr für die Demokratie.

Das Bundesverwaltungsgerichts hatte Aufklärungsbedarf vor allem dahin gesehen, ob die Religionsgemeinschaft darauf hinwirke, im Fall der Weigerung von Eltern, der Bluttransfusion bei ihren noch nicht einsichtsfähigen Kindern zuzustimmen, staatliche Schutzmassnahmen zu erschweren oder zu verhindern. Dazu stellte das Oberverwaltungsgericht fest, aus den Akten des Beklagten ergebe sich, dass Nachfragen bei Ärzten, Kliniken sowie Staats- und Amtsanwaltschaft keine einschlägigen Erkenntnisse zutage gefördert hätten. Auch aus dem 1998 veröffentlichten Bericht der Enquete-Kommission "Sog. Sekten und Psychogruppen" des Deutschen Bundestages ergäben sich in dieser Richtung ebenfalls keine Anhaltspunkte. Sie habe im Gegenteil festgestellt, dass die prinzipielle Rechtsposition in Deutschland, Bluttransfusionen notfalls auch gegen den Willen der Eltern durchzusetzen, von der Religionsgemeinschaft akzeptiert werde. Dem entspreche es, dass die Familiengerichte in der allseits bekannten Haltung der Zeugen Jehovas zur Blutfrage einhellig keinen Hinderungsgrund sähen, einem dieser Religionsgemeinschaft angehörenden Elternteil das Sorgerecht zu übertragen. Andere behördliche oder gerichtliche Erkenntnisse gebe es nicht.

Schliesslich hat das Bundesverwaltungsgerichts für klärungsbedürftig gehalten, ob die Religionsgemeinschaft Erziehungsmassstäbe vorschreibe, die eine Entwicklung von Kindern zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der Gesellschaft in einem Masse beeinträchtigten, dass das Kindeswohl gefährdet sei.

Hierzu hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass die in Sorgerechtsfällen regelmässig erhobenen und mit dem Vorbringen des Beklagten im hiesigen Verfahren deckungsgleichen Vorwürfe gegen die vermeintlichen (Erziehungs-)Praktiken der Zeugen Jehovas wie das Erziehen mit körperlicher Gewalt, das Hineindrängen in eine Aussenseiterrolle oder die Verhinderung angemessener Schulbildung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der familiengerichtlichen Rechtsprechung und - soweit aktenkundig - den in Sorgerechtsprozessen erstatteten kinderpsychologischen Gutachten keine Entsprechung fänden.

Eine Revision dieses Urteils sei nicht mehr zugelassen, heisst es. Das Land Berlin prüfe aber eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.

Die Zeugen Jehovas sind eine weltweit aktive christlich-endzeitlich ausgerichtete Glaubensgemeinschaft. Die "Zeugen" sind für ihre ausgeprägte Laien-Missionstätigkeit, den häufigen Gebrauch von Bibel-Zitaten aus ihrer eigenen Bibelübersetzung sowie ihre Veröffentlichungen "Der Wachturm" und "Erwachet" bekannt. Sie wurden im 19. Jahrhundert von einer Gruppe ernster Bibelforscher um Charles Taze Russell (1852–1916) in den USA begründet. Bereits 1897 eröffneten sie ein Bibelforscher-Literaturdepot in Berlin. Die Zeugen Jehovas waren während des Nationalsozialismus schärfsten Verfolgungen ausgesetzt. Im Jahr 2004 gab es rund 6,5 Millionen aktive Zeugen Jehovas weltweit, davon 166'000 in Deutschland. Über eine Million Mitglieder leben allein in den USA.

In vielen Ländern sind die Zeugen Jehovas von staatlicher Seite als Religion anerkannt, einschliesslich ehemaliger Verbotsländer des früheren Ostblocks, auch in solchen Ländern wie dem afrikanischen Malawi, wo es in den 1960er Jahren schwerwiegende Konflikte gab. In Österreich sind sie seit 1997 Bekenntnisgemeinschaft.

Registernummer des Urteils: Aktenzeichen OVG 5 B 12.01
Web Site der Berliner Senatsverwaltung für Justiz: http://www.Berlin.de/SenJust/Gerichte/OVG


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