Rorschach: Islamtagung diskutiert Vereinbarkeit von Demokratie und Menschenrechten

Rorschach/Schweiz | 28.02.2011 | APD | Schweiz

„Die Mehrheit hat nicht immer Recht“, sagten Giusep Nay, alt Bundesgerichtspräsident, und Andreas Gross, Nationalrat, am 27. Februar, an der dritten Islam-Tagung des ForumSOSOS (Solidarität und Spiritualität Ostschweiz), in Rorschach, als sie in ihren Kurzreferaten auf den Volksentscheid zur Antiminarett-Initiative Bezug nahmen.

Es bestehe sowohl beim Minarettverbot, als auch bei der angenommenen Ausschaffungsinitiative ein Konflikt zwischen Rechtsstaat und Demokratie, betonte Nay. Klagende Moslems würden am europäischen Menschenrechtsgerichtshof Recht bekommen, weil ihnen als einziger Religionsgemeinschaft die Verwendung eines religiösen Symbols in der Öffentlichkeit verweigert werde. Wegen dieser Menschenrechtsverletzung würde die Schweiz verurteilt, das Bundegericht müsste sein negatives Urteil revidieren und die Baubewilligung erteilen. Der Rechtsstaat wäre wieder im Lot, die direkte Demokratie aber ramponiert, so der ehemalige Bundesrichter, weil damit der Volksentscheid missachtet wäre.

Der gleiche Konflikt bestehe auch bei der Ausschaffungsinitiative. Ausschaffungen in Länder, wo Tod und Folter drohten, seien menschenrechtswidrig. Wenn aber nicht gemäss der angenommenen Verfassungsbestimmung ausgeschafft werde, missachte man den Volksentscheid, erläuterte Nay.

Eine einfache Lösung für Initiativen, die entweder die Demokratie oder den Rechtsstaat verletzten, bestünde gemäss dem Richter darin, dass sie für ungültig erklärt würden. Denn „bei einer unbeschränkten Macht des Volkes unterschiede sich die Demokratie nur sehr wenig von einer Diktatur, sie wäre eine Diktatur der Mehrheit, die mit unserer Auffassung von einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar ist“, hielt der alt Bundesgerichtspräsident gegenüber Einwänden fest, dass diese Lösung eine Einschränkung der Volksrechte darstelle. Die Bundesverfassung kenne keine Bestimmung, die die unbeschränkte Machtausübung des Volkes festlege. In der Präambel stehe, „dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“

„Dass in der Demokratie alle staatliche Macht auf dem Willen des Volkes gründet, bedeutet nicht, dass das Volk auch alle Macht im Staat ausübe“, erklärte Nay. Grundlegend seien das Rechtsstaatsprinzip und die Gewaltenteilung, die sich das Volk mit der Verfassung selbst auferlegt habe. Nicht nur das „zwingende Völkerrecht“, sondern auch die ratifizierten völkerrechtlichen Verträge bildeten dabei eine bindende Leitplanke.

„Einen Vorrang des Demokratieprinzips vor den Spielregeln des Rechtsstaates, der sie ausser Kraft setzen würde, kann es nicht geben“, hielt Giusep Nay fest. Wer die jetzt gültigen Spielregeln verändern wolle, müsse dies auf dem festgelegten rechtsstaatlichen Weg angehen, mit einer Totalrevision der Bundesverfassung.

Direkte Demokratie und Europäische Menschenrechtskonvention
„Die Menschenrechtskonvention ist das Ergebnis der Lehre, die die Menschen aus den Problemen der Vergangenheit gezogen haben“, sagte Andreas Gross, Nationalrat. Er bezog sich dabei auf die Gewalterfahrungen im ersten und zweiten Weltkrieg. Dass in den meisten Staaten Europas der einzelne Bürger seine Rechte gegen den eigenen Staat beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg einklagen könne, sei eine riesige Errungenschaft, so der Politiker, die unter den heutigen Bedingungen kaum mehr zu erreichen wäre.

Es gebe ein Ungleichgewicht zwischen direkter Demokratie und der Europäischen Menschenrechtskonvention, stellte Andreas Gross fest, das wieder ins Lot gebracht werden müsse. Wenn in der direkten Demokratie das Volk über etwas abstimmen könne, das wie bei der Anti-Minarett- oder Ausschaffungsinitiative nicht umsetzbar sei, habe man nicht nur einen ständigen Konflikt zwischen direkter Demokratie und den Menschenrechten, man führe die direkte Demokratie auch ad absurdum, so Gross und diskreditiere diese damit.

Nebst den von Giusep Nay vorgeschlagenen Möglichkeiten, um das Verhältnis zwischen direkter Demokratie und den Menschenrechten wieder zu versöhnen, schlug Andreas Gross vor, vermehrt bewusst zu machen, dass die direkte Demokratie nicht nur ein kollektives und ein Bürgerrecht, sondern in ihrem innersten Wesen ein Menschenrecht sei, das in der Würde des Menschen gründe.


Rifa’at Lenzin, Islam- und Religionswissenschaftlerin, unterstrich, dass für Moslems die Menschenrechte einen Bezug zu islamischen Quellen haben müssten. Säkular begründete Menschenrechte hätten im Islam keine Bedeutung. Nach islamischem Verständnis seien die Menschenrechte keine „droits naturels“, da das Recht nicht vom Menschen gesetzt, sondern nur von ihm „gefunden“ werden könne, so die Wissenschaftlerin. Der Hauptunterschied zwischen der UN-Menschenrechtskonvention und dem, was man als „islamische“ Menschenrechte bezeichnen könnte, sei der Gottesbezug.

Viele Anliegen der Menschenrechte, wie körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Gleichbehandlung, Gewissensfreiheit, Asyl etc., fänden sich auch im Koran oder der Sunna, erklärte Lenzin. Es bestehe aber keine einhellige Auffassung unter Muslimen, was „islamische“ Menschenrechte seien, auch sei deren Verhältnis zu den universellen Menschenrechten nicht geklärt. Viele muslimische Staaten hätten 1948 der Erklärung der Menschenrechte zwar zugestimmt, sie seien damals aber oft noch unter Kolonialherrschaft gestanden oder von diesen abhängig gewesen, gab Lenzin zu bedenken.


Amira Hafner-Al Jabaji zeigte auf, wie sich das Isalmbild in der Schweiz in den letzten 30 Jahren unter dem Einfluss markanter politischer Ereignisse – Irakkriege, Anschlag auf das World-Tradezentrum in New York etc. gewandelt habe. Die Debatte um den Islam sei von Angst geprägt, sagte die Islamwissenschaftlerin. Sie hoffe, dass die jüngsten Volksaufstände in Nordafrika dieses Bild im Westen relativiere und mit neuen Aspekten ergänze.

Berichte zur Tagung über den aktuellen Islam-Diskurs werden auf der ForumSOSOS-Website bereitgestellt: www.sosos.org

Träger der Veranstaltung waren: ForumSOSOS, Schweizer Friedensrat, Amnesty International, Dachverband islamischer Gemeinden Ostschweiz (DIGO), Gleichstellungs- und Integrationsförderung, Kanton St. Gallen.

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