. © Foto: record.net.au

Jetzt amtlich: Ein Dingo tötete vor 32 Jahren Baby Azaria

Wahroonga bei Sydney/Australien | 15.06.2012 | APD | International

Es gebe hinreichend Beweise dafür, dass ein Dingo, ein Wildhund, vor 32 Jahren die kleine Azaria Chamberlain verschleppt und getötet habe, urteilte am 12. Juni Untersuchungsrichterin Elizabeth Morris im australischen Darwin. Damit ist einer der spektakulärsten Kriminalfälle Australiens offiziell geklärt. Azarias Mutter Lindy Chamberlain-Creighton, die drei Jahre unschuldig im Gefängnis sass, und ihr früherer Mann Michael Chamberlain zeigten sich nach dem Urteil vor den Medien erleichtert und glücklich, „dass die scheinbar endlose Geschichte doch noch zu diesem Abschluss gekommen ist“. Kein Australier sollte jetzt mehr behaupten, dass Dingos harmlos seien und nur angriffen, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlten, betonten beide.

Die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Australien, deren Pastor Michael Chamberlain 1980 war, begrüsste das Urteil. „Jetzt ist endgültig geklärt, dass ein Dingo den Tod von Baby Azaria verursacht hat und die Chamberlains unschuldig sind“, so Kommunikationsdirektor James D. Standish (Wahroonga bei Sydney). Er sprach seinen besonderen Dank an Rechtsanwalt Stuart Tipple aus, der seit den 1980er Jahren sich um Gerechtigkeit für das Ehepaar bemüht habe. Sein Dank gelte aber auch den vielen Australiern, „die sich jahrelang gegen das Unrecht wandten, das den Chamberlains widerfahren ist“. Standish bezeichnete die Verurteilung von Lindy und ihrem Mann Michael als „einen der entsetzlichsten Justizirrtümer in der Neuzeit Australiens“. Er hoffe, dass der jetzige Urteilsspruch in Darwin „ein weiterer Schritt im Heilungsprozess für die Chamberlains und unsere Nation ist“. Was ihnen geschehen sei, sollte „Ansporn für uns alle sein, angemessen zu handeln und für jene einzutreten, die Unrecht erleiden.“

Ein Baby verschwindet
Am 17. August 1980 zelteten Michael Chamberlain und seine Frau Lindy am Ayers Rock, wie der Uluru, das Wahrzeichen des Kontinents in der zentralaustralischen Wüste im Nördlichen Territorium Australiens, damals hiess. Mit dabei waren ihre Söhne Aidan (7) und Reagan (4) sowie ihre erst neun Wochen alte Tochter Azaria. Die damals 32-jährige Mutter hatte Azaria zum Schlafen ins Zelt gelegt und war dann zurück zum nur 20 bis 25 Meter entfernten Lagerfeuer gegangen, wo ihre Familie mit anderen Urlaubern grillte. Als das Baby zu schreien begann, eilte sie zum Zelt. Mutter Lindy sagte später unter Eid aus, dass sie dort die Umrisse eines Dingos gesehen habe, der etwas im Maul wegschleppte. Im Zelt fand sie den zerrissenen und blutverschmierten Strampelanzug und einen leeren, noch warmen Babyschlafsack. Die Leiche des Kindes wurde nie gefunden.

Auf der Anklagebank
Untersuchungsrichter Dennis Barrit, der die Ermittlungen leitete, war in seinem Urteil vom 20. Februar 1981 davon überzeugt, dass ein Dingo das Baby aus dem Zelt „entführt“ und getötet hatte. Doch dann fand die Polizei angebliche Blutspuren im Auto von Michael Chamberlain. Neue Ermittlungen wurden im September 1981 unter Generalstaatsanwalt Paul Everngham eingeleitet. Am 2. Februar 1982 erhob Untersuchungsrichter Jerry Galvin gegen Lindy Chamberlain Anklage wegen Mordes. Ihr Ehemann wurde der Mitwisserschaft angeklagt. Gegen Kaution kamen beide zunächst auf freien Fuss. Vor einem Geschworenengericht begann am 13. September 1982 in Darwin im Norden Australiens der Prozess. Lindy Chamberlain war zu diesem Zeitpunkt im siebten Monat schwanger. Der Hauptanklagepunkt: Die Mutter soll ihrem Baby auf dem Vordersitz ihres Autos die Kehle durchschnitten und dann die Leiche beseitigt haben. Um Spuren zu vertuschen, habe sie Azarias Kleidung neben eine Dingohöhle gelegt.

Unterstellungen und ein bizarres Gerücht
Die Stimmung in den australischen Medien und in der Bevölkerung wandte sich gegen die Chamberlains. Angebliche Dingo-Experten erklärten, dass die Wildhunde friedliche Tiere seien, die ohne Provokation keine Menschen angriffen. Nur wenige glaubten Lindy Chamberlain. Sie passte nicht ins Bild einer verzweifelten, trauernden Mutter. Sie schaute nicht mitleiderregend mit Tränen in den Augen in die Kameras, sondern wirkte gefasst. Lindy erklärte, dass „sie sehr viel Kraft aus ihrem starken Glauben schöpft“. Sie wisse, dass sie ihr Kind erneut sehen werde, wenn Jesus auf diese Erde wiederkommt. Diese Gewissheit helfe ihr, nicht völlig zu verzweifeln. Doch für viele war sie eine „eiskalte“ Mörderin.

Es tauchte auch das bizarre Gerücht auf, die Chamberlains gehörten einem Kult an, der Kinderopfer verlange. Der Name Azaria bedeute „Opfer in der Wüste“. Das dies absoluter Unsinn sei, hatte schon Richter Dennis Barrit in der ersten Verhandlung festgestellt, denn der alttestamentliche Name Azaria heisst „Geschenk Gottes“. Die Freikirche stellte dazu ausdrücklich fest, dass die Siebenten-Tags-Adventisten die grösste Ehrfurcht vor dem Leben hätten. Bei ihnen gebe es keine „rituellen Opfer“. „Das einzige Opfer, das sie akzeptieren, ist das welches Jesus am Kreuz für uns gebracht hat. Damit hat er uns ein für allemal gerettet.“

Lebenslange Haft
Am 29. Oktober 1982 befanden die Geschworenen Lindy und Michael Chamberlain für schuldig. Lindy wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, ihr Mann bekam 18 Monate auf Bewährung, um die Kinder zu versorgen. Am 19. November 1982 wurde die Mutter auf freien Fuss gesetzt, während ihre Berufung vor dem Bundesgerichtshof lief. Im Krankhaus in Darwin brachte sie ihre zweite Tochter Kahlia zur Welt.

Der australische Bundesgerichtshof wies die Berufung am 29. April 1983 ab, und Lindy Chamberlain kam wieder ins Gefängnis. Auch der Oberste Gerichtshof verwarf mit drei gegen zwei Stimmen am 22. Februar 1984 eine erneute Berufung. Bürgerinitiativen und Einzelpersonen begannen sich für eine erneute gerichtliche Untersuchung des Falles einzusetzen. Dingo-Experten und Gerichtsmediziner lieferten neues Beweismaterial. Unter anderem stellte sich heraus, dass es sich bei den angeblichen Blutspuren im Auto um einen Schalldämpfer-Spray handelte. Doch die Regierung des Nördlichen Territoriums lehnte am 12. November 1985 eine erneute Beweisaufnahme ab.

Entlassung und Freispruch
Eine Wende trat erst ein, als am 2. Februar 1986 ein Aborigine, ein australischer Ureinwohner, ein Babyjäckchen nahe des Uluru-Felsens, nicht weit von einem Dingo-Bau, entdeckte, das Azarja bei ihrem Verschwinden anhatte. Aufgrund der neuen Beweislage erfolgte am 7. Februar die Entlassung von Lindy Chamberlain aus dem Gefängnis in Darwin. Nach der Freilassung schlug die Stimmung in der australischen Bevölkerung um. Plötzlich schien jeder nur noch entsetzt über das australische Justizsystem zu sein.

Am 8. Mai 1986 wurde der Fall Chamberlain unter Richter Trevor Morling von der „Königlichen Kommission“ noch einmal aufgerollt. Die Untersuchung wurde am 19. März 1987 nach 102 Sitzungstagen, an denen 146 Zeugen gehört wurden, abgeschlossen. Nachdem die Regierung des Nördlichen Territoriums den Untersuchungsbericht erhielt, sprach Generalstaatsanwalt Menzies am 2. Juni 1987 die Begnadigung aus. Doch die Chamberlains wollten keine Begnadigung, sondern die Aufhebung der Schuldurteile.

Dazu musste erst am 21. Oktober 1987 das Parlament des Nördlichen Territoriums eine Gesetzesänderung beschliessen, um die Möglichkeit zu einer Berufung gegen die bisherigen Urteile zu schaffen. Am 21. September 1988 hob Richter James Muirhead die Urteile gegen Lindy und Michael Chamberlain auf. Sie erhielten eine Entschädigung von umgerechnet einer Million Euro, die aber nicht ausreichte, um die Gutachter- und Anwaltskosten zu bestreiten.

Änderung der Sterbeurkunde
Nun ging es den Chamberlains auch darum, die Sterbeurkunde ihrer Tochter zu ändern, wo die Todesursache offengelassen worden war. 1995 scheiterte zunächst das Vorhaben. Bei einer weiteren Untersuchung kam der leitende Gerichtsmediziner in seinem Gutachten zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die Indizien sprächen weder zweifelsfrei für einen Mord noch für einen Dingo als Verursacher, sodass die Todesursache des Kindes nicht mehr mit Sicherheit festgestellt werden könne.

Im August 2010 schrieb Lindy Chamberlain-Creighton zum 30. Jahrestag des Verschwindens ihrer Tochter Azaria auf ihrer Homepage (www.lindychamberlain.com) einen offenen Brief an die „vorurteilsfreien Australier“. Sie prangerte darin die Sterbeurkunde an und bat um Unterstützung. Daraufhin war die Regierung des Nördlichen Territoriums bereit, sich mit dem Fall noch einmal zu befassen. Generalstaatsanwältin Delia Lawrie stellte eine diesbezügliche Anfrage an das Personenstandsregiester, sodass es zur jetzigen Untersuchung in Darwin kam. Dabei legte Rechtsanwalt Tipple 239 dokumentierte Fälle von Dingoangriffen im australischen Bundesstaat Queensland in den Jahren 1990 bis 2011 vor. Der tragischste Fall war der Tod eines neunjährigen Jungen am 30. April 2001 auf der Fraser-Insel, als zwei Dingos ihn jagten, nachdem er sich von seinen Eltern entfernt hatte. Mit der geänderten Sterbeurkunde konnten jetzt die Chamberlains das Gerichtsgebäude in Darwin verlassen.

Das Drama verfilmt
Das Ehepaar hatte sich 1991 scheiden lassen. Beide sind wieder verheiratet. Michael Chamberlain verliess den Pastorendienst und arbeitete als Lehrer. 2002 promovierte er in Pädagogik an der australischen Universität von Newcastle. Heute lebt er im Ruhestand. Lindy Chamberlain-Creighton schreibt gegenwärtig ein Kinderbuch sowie ein weiteres Werk über Trauer und Vergebung. Sie hält auch Seminare über Stress- und Trauerbewältigung sowie den Umgang mit Medien. Das Drama um das Verschwinden des Babys Azaria wurde 1988 mit Meryl Streep verfilmt. Der Spielfilm „Ein Schrei in der Dunkelheit“ kam im Mai 1989 auch in die deutschen Kinos.

(9774 Zeichen)
© Nachrichtenagentur APD Basel (Schweiz) und Ostfildern (Deutschland). Kostenlose Textnutzung nur unter der Bedingung der eindeutigen Quellenangabe "APD". Das © Copyright an den Agenturtexten verbleibt auch nach ihrer Veröffentlichung bei der Nachrichtenagentur APD. APD® ist die rechtlich geschützte Abkürzung des Adventistischen Pressedienstes.